k+a 2014.1: «Glas in der Architektur»

Der kontroverse Baustoff Glas – körperlos, märchenhaft oder unarchitektonisch – ist für die zeitgenössische Architektur unverzichtbar. Gigantische Bauten werden durch vollflächig verspiegelte Fassaden entmaterialisiert, die Umgebung spiegelt sich in ihnen, Innenräume schotten sich beinahe zitadellenartig gegen aussen ab. Dem Betrachter zeigt sich eine Undurchdringlichkeit und Anonymität, die oft nur abends oder nachts, wenn Gebäude von innen beleuchtet werden, aufgehoben ist. Glas bedeutet Transparenz, Licht, körperlose Hülle.

Wir gehen in dieser Ausgabe von Kunst + Architektur den vielen Aspekten und Verwendungen des Werkstoffs nach, «der wie kein anderer verschmilzt mit der Welt». Wir haben uns gefragt, wie der kulturbestimmende Begriff Transparenz auch die Firmenarchitektur beeinflusst. Der Einsatz von Glas bei historischen Bauten und die zunehmende Verbreitung umweltfreundlicher Solartechnologien – meist Elemente aus Glas – im Rahmen der «Energiestrategie 2050» sind weitere Schwerpunkte auf den folgenden Seiten. Dabei zeigt sich, dass ästhetisch überzeugende Lösungen zur Integration in historische Bausubstanz dank Schweizer Forschungsarbeit kurz vor der Realisierung stehen.

Essay | Essai | Saggio
Matthias Noell
Ins Kristall bald dein Fall
Das Glas in der Architektur der Moderne

Zusammenfassung
Die Geschichte des Glases in der Architektur ist auch diejenige einer Hassliebe des Berufsstandes zu diesem märchenhaften und unarchitektonischen Baustoff, ohne den Architektur strukturell denkbar, aber kaum noch vorstellbar scheint. Das Glas spaltet die Gemüter durch seine oft hymnisch beschworene Transparenz und durch seine Unfähigkeit, konstruktiv Wesentliches zur Architektur beizutragen. Der Topos seiner Unkörperlichkeit täuscht häufig darüber hinweg, dass das Glas meist die Unterschiedlichkeit von innen und aussen betont und eben nicht eine Vermischung hervorruft. Glas ermöglicht zunächst einmal relativ ungehinderten Lichttransfer, ein Aspekt, der die Wahrnehmung des architektonischen Raums seit dem 19. Jahrhundert entscheidend veränderte. Aber ist Glas wirklich durchsichtig, oder waren nur die Besucher des Kristallpalastes von der einfallenden Lichtfülle so geblendet und versuchten ihre unwirklichen Eindrücke in Worte zu fassen? Die Ambivalenz des Werkstoffs, seine nicht eindeutig zu greifenden Charakteristika führen bis heute zu poetischen und metaphorischen Beschreibungen in Literatur, Architekturbeschreibung und Architekturtheorie, die ihrerseits auf die Entwurfstätigkeit zurückwirken.

Dossier 1
Valérie Sauterel
Entre ciel et terre
Les vitraux de la chapelle Notre-Dame-du- Perpétuel-Secours

Zusammenfassung
Die Fenster der Kapelle Notre-Dame-du-Perpétuel-Secours
Die himmlischen Ansichten des Genfer Künstlers Christian Robert-Tissot in der Kapelle Notre-Dame-du- Perpétuel-Secours fügen sich meisterhaft in die moderne und kühne Architektur der kugelförmigen Dreifaltigkeitskirche des Architekten Ugo Brunoni ein. Mit ihrer innovativen Technik und der zeitgenössischen Ästhetik eröffnen die siebenundzwanzig Glasfenster diesem Andachtsraum unmissverständlich in die Zukunft gerichtete Ausblicke.

Dossier 2
Simon Baur
Glas als Kommunikationsstrategie?
Firmenarchitektur und die Sorge um Transparenz
Zusammenfassung
Glas als Baustoff und Kommunikationsfaktor findet immer mehr Verbreitung in der Architektur von Unternehmen. Der Begriff der Transparenz als kulturbestimmendes Schlagwort des 21. Jahrhunderts spielt dabei eine entscheidende Rolle. Es scheint, als würde dem Bedürfnis eines Zeitalters entsprochen, dessen komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge zunehmend unübersichtlich geworden sind. Aktuelle Beispiele anhand der Glasfassaden des Forums 3 auf dem Novartis Campus in Basel (Architekten Diener & Diener in Zusammenarbeit mit Gerold Wiederin und Helmut Federle), des Zürcher Prime Towers (Gigon/Guyer), des Marketinggebäudes der Ricola AG in Laufen, sowie des Vitra-Hauses in Weil am Rhein/D (beide Herzog & de Meuron) zeigen unterschiedliche Zugänge und architektonische Umsetzungen. Während bei einigen Firmen Glas als schützender Mantel funktioniert, erlauben andere Beispiele die Manipulation der Fassaden durch ihre Mitarbeiter oder setzen die Transparenz als Fiktion ein. Ein bis anhin noch stiefmütterlich behandeltes Thema zeigt die negativen Seiten der Glasarchitektur: Jährlich sterben in der Schweiz rund eine Million Vögel, die sich an den riesigen Glasflächen das Genick brechen. Ein Umdenken ist bei Architekten nicht in Sicht.

Dossier 3
Moritz Flury-Rova
Das Mass von Glas
Gedanken zur «Verglasung» historischer Bauten

Zusammenfassung
Selbst kleine Veränderungen nagen oft an der unersetzlichen Originalsubstanz authentischer Baudenkmäler. Ihr Einmaligkeitswert, der durch nichts regenerierbar ist, droht in der lauten Debatte um Landverschleiss, Verdichtung und Energiewende unterzugehen. Fenster sind nicht nur eines der hervorragenden Elemente zur stilistischen Einordnung eines Bauwerks, sie sagen auch etwas über die «inneren Werte» aus. Was bei Neubauten dem Zeitgeist entsprechend durchaus Sinn macht, bedeutet bei einem historischen Bau oft einen schmerzlichen Eingriff. Nicht, dass jede Veränderung a priori schlecht wäre – eine vielfältige Baugeschichte kann einem Gebäude gar einen besonderen Denkmalwert verleihen. Dennoch: Neben Fenstern für zusätzlichen Lichteinfall drängen immer mehr die Solaranlagen zur Energiegewinnung auf die Dächer. Wo macht ihr Einsatz Sinn? Es ist erfreulich, wie sich in wenigen Jahren gangbare Wege für einige der neuen Herausforderungen herausgebildet haben, dennoch darf das nicht dazu verleiten, diese Ansätze als allgemeingültige Rezepte zu verstehen, die jedem historischen Bau bedenkenlos verschrieben werden dürften. Sicher ist, dass unsere Nachkommen auf das ökologische Verhalten heutiger Generationen angewiesen sind – aber auch darauf, dass wir ihnen unverfälschte gebaute Geschichte überliefern – denn auch Baukultur ist eine endliche Ressource.

Interview | Interview | Intervista
Zara Tiefert-Reckermann
Zum Spannungsfeld von Photovoltaik und Denkmalpflege
Energiedebatte, Innovationen und der Schutz von Kulturgütern

Der Vormarsch umweltfreundlicher Solartechnologien – also Objekten aus Glas – führt oft zu Kontroversen beim Einsatz auf historischer Bausubstanz. Dennoch: Sowohl der Schutz von Kulturgütern wie das Erreichen anspruchsvoller Energieziele stehen grundsätzlich nicht im Widerspruch. Zwei Gespräche mit Experten – dem Denkmalpfleger Peter Omachen und dem Forscher Patrick Heinstein von der ETH Lausanne – zeigen die ganze Palette möglicher Antworten auf drängende Fragen.

Dossier 4
Giulio Foletti
Due «fabbriche del vetro» settecentesche
Le vetrerie di Lodrino e Personico

Zusammenfassung
Die Glashütten von Lodrino und Personico
Der Beitrag über die zwei Glashütten der Leventina und der Riviera aus dem 18. Jahrhundert verweist auf ein aussergewöhnliches Kapitel der Wirt- schafts-, Sozial- und Technikgeschichte des Kantons Tessin. Die erste «Glasfabrik» entstand 1736 in Personico und stellte ihre Tätigkeit 1829 ein, die zweite wurde 1782 in Lodrino errichtet und 1869 endgültig geschlossen. Als Rohstoff für die Glasherstellung verwendeten die beiden Unternehmen den Quarz und den Silikatsand der Region und nutzten zudem das Holz aus der Umgebung. In beiden Glashütten war Meinrad Siegwart aktiv; zusammen mit anderen Mitgliedern seiner Familie war er zuvor in den Firmen von Flühli und Hergiswil beschäftigt, während weitere Fachkräfte namentlich aus dem deutschsprachigen Raum stammten.

Dossier 5
Jörg Matthies
Orangerien und Gewächshäuser am Thunersee
Preussische Herrschaften mit Faible für Exotisches

Zusammenfassung
Orangerien und Gewächshäuser sind wesentliche Elemente historischer Gartenanlagen. Sie gehören zum gestalterischen Gesamtkonzept von Schloss und Garten und stellten in ihrer Zeit häufig eine technische Herausforderung dar. Die Orangerien und Glashäuser am Thunersee mögen sich nicht auf den ersten Blick als spektakuläre Bauwerke aufdrängen, sie weisen aber oft schmuckvolle Details wie Elemente des Schweizer Holzstils, gusseiserne Kapitelle, Tür- und Fenstergriffe und Beschläge auf. Vermutlich kannten alle vier Bauherren – in Schadau, Oberhofen, Hünegg und Spiez – die Potsdamer Schlösserlandschaft gut und nahmen Einfluss auf die Gestaltung von Bauten und Park. Fast immer stehen sie im Zusammenhang mit anderen Wirtschaftsgebäuden und einem Gärtnerhaus und sind somit als Ensembles schützenswert. Die Bauwerke haben historischen Denkmalwert und prägen die Kulturlandschaft am Thunersee in besonderer Weise. Für die sachgerechte Restaurierung ist ein interdisziplinäres Zusammenwirken von Fachleuten der Gartenarchitektur- und Technikgeschichte, der Pflanzenwissenschaften sowie der Denkmalpflege ideal.

Fotoessay | Essai photographique | Saggio fotografico
Aussenhaut und Glas – ein Notat

Neben Mauern und Türen, fast allen Behausungen eigen, beschäftigte ich mich früh mit Fensterglas. Es war eine Fläche, die Durchlässigkeit versprach. Hier öffnete sich ein Bau, offerierte fast so etwas wie Transparenz. Wer innen verweilte, hatte Verbindung zum Aussen. Wer von draussen neugierig ans Glas herantrat, sah das verborgene Innere. Licht fiel ins Dunkel und «belichtete» das Raumgefüge. Hier ein Sonnenflecken, dort eine Spiegelung. An dieser Schnittstelle kamen mir manche Parallelen zum Kamerakorpus in den Sinn. Breite Fenster, beste Raumhelligkeit. Grosse Blende, viel Licht auf Zelluloid. Glas war schon von weitem eine Eröffnung. Glas als Luke, so auch die Etymologie. Sowohl die Analogkamera als auch die Digitalkamera blieb übrigens dieser Luke verhaftet – dem kleinen Ausguck (und Einblick). Der Vergleich mit der Kamera endet bei vollends glasbeschichteten Häusern. Nun zählten Silikatgläser zur Bausubstanz. Sie dominierten die Aussenhaut. Und es ging in schwindelerregende Höhen. Erstmals nahmen mich die Superlative in Los Angeles gefangen, später geschah es in San Francisco, New York, Las Vegas. Riesige Glasflächen, die Würfel, Quader, Kegel, Zylinder, Kuben wie Gelatine überzogen. Klassizistische Baukörper, wie noch zu Kafkas Zeiten, waren mutiert. Der Blick in die Höhe wie die Fahrt auf Eis. Eisglatt. Sogar der Schatten war weg. Lehm, Stein, Zement, Stahl waren ins Innere gekippt. Fast unsichtbar, stützten sie von dort die Aussenhaut. Vor den modernen Glastürmen, egal wo ich sie sah, packte mich oft eine gewisse Unruhe. Es war die ewige Suche nach dem sogenannten Dahinter. Sich nicht blenden lassen … Nur wer hineingeht in die Baukörper, kann abwägen, ob innen das gilt, was nach aussen gezeigt wird und neu den gesellschaftlichen Diskurs prägt: Transparenz. Glas ist ein Versprechen. Glas fordert. Christian Scholz

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Nicole Bauermeister, Direktorin der GSK
Billet de la direction
Wir heissen die Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikerin der Schweiz bei uns willkommen!

Seit Anfang Januar 2014 befindet sich die Geschäftsstelle der Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz (VKKS) in den Räumlichkeiten der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte am Pavillonweg 2 in Bern.

Interview KdS | Interview MAH | Intervista MAS
«Die Kunstdenkmäler der Schweiz»

Interview mit Dr. Andreas Spillmann, Direktor des Schweizerischen Nationalmuseums.

Focus
Peter Röllin
Goldzack-Halle in Gossau SG
Robert Schiess / Dr. Bernhard Christ
Ein Fussgängersteg vor der Grossbasler Rheinfront?

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Preis: CHF 22.50
Preis für GSK Mitglieder: CHF 20.00
Abbildungen: 107
Seitenzahl: 80
Reihe: Kunst + Architektur
Orte / Gemeinden: Schweiz / Suisse / Svizzera
Autoren: Diverse
Artikelnummer: K+A 2014.1
Inhaltssprache: Deutsch, Französisch, Italienisch
Erscheinungsdatum: 08.04.2014
ISBN: 978-3-03797-128-4
Verlag: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte