k+a 2016.1: «Kirchenumnutzung»

Die stark rückläufige Zahl der Kirchenmitglieder in den vergangenen Jahrzehnten hat auch in der Schweiz Spuren hinterlassen – die Debatte um das Thema Umnutzung von Kirchen gewinnt an Gewicht, es ist zunehmend in den Medien präsent. Dieser Prozess begann hierzulande vor rund zehn Jahren, während andere europäische Staaten wie die Niederlande oder Deutschland seit über dreissig Jahren intensiv mit der Problematik konfrontiert sind. Eine erweiterte Perspektive zeigt allerdings auch: Kirchenumnutzungen gibt es seit den Anfängen der Kirchengeschichte – seit es Kirchen gibt. Unsere Autorinnen und Autoren haben die vielen Aspekte der Umnutzungen – denkmalpflegerische, theologische, soziologische und viele mehr – aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Sie geben anhand ausgewählter Beispiele aus allen Landesteilen einen Einblick in den Stand der Diskussion und die aktuellen Entwicklungen. War es nämlich früher meist der Staat, der profanierte Kirchen und Klöster nutzte, so beteiligen sich heute öffentlich-rechtliche Institutionen, vereinzelt auch Private an den Umnutzungen. Die Mehrzahl der Bauten bleibt allerdings im Besitz der Kirchen: Sie sind es, welche die Bauten umnutzen und einer Mehrfachnutzung zuführen, wie das gelungene Beispiel der Luzerner Pfarrei St. Josef-MaiHof zeigt. Ich bin überzeugt: Die in der Schweiz relativ junge Debatte wird lebhaft weitergehen.

Essay | Essai | Saggio
Eva Schäfer
Nutzungskonzepte
Zur Bedeutung des modernen Kirchenbau-verständnisses für die aktuelle Umnutzungsdiskussion

Zusammenfassung
Unsere aktuellen Überlegungen zur Nutzung oder Umnutzung von Kirchenräumen sind von Auseinandersetzungen über das Kirchenbauverständnis der vergangenen sechs Jahrzehnte geprägt – angesichts der zunehmend leerstehenden Kirchen ist es nicht unwichtig, sich dieser Prägung bewusst zu sein. Die Ausrichtung der modernen Architektur auf die Funktion ist bis heute ein bestimmender Faktor in der Architekturkonzeption, auch im Kirchenbau. Wenn Bauten ihre eigentliche Nutzung verlieren, werden sie häufig wiederum primär auf eine neue Nutzung hin umgebaut. Die Wahl der Nutzung sollte jedoch, gerade bei Kirchenumnutzungen, nicht der alleinige Ausgangspunkt sein. Denn es gilt, alle Konsequenzen – nicht nur die baulichen – für das Kirchengebäude und seine Umgebung im Voraus zu bedenken, sofern man ein Kirchengebäude mittels Umnutzung dauerhaft erhalten will.

Dossier 1
Simona Martinoli
Da chiesa a passage
La Galleria Benedettini a Bellinzona
Zusammenfassung
Von der Kirche zur Passage: die Galleria Benedettini in Bellinzona
Kurz bevor man beim Spaziergang vom Bahnhof Bellinzona entlang der Viale Stazione zur Piazza Collegiata gelangt, entdeckt man rechter Hand eine Passage für Fussgänger. Sie verbindet den Boulevard mit der alten Via Codeborgo. Dabei handelt es sich nun aber nicht um irgendeinen überdachten Durchgang, sondern um den Restbestand einer barocken Kirche, der ein seltenes Beispiel innerhalb der Typologie der «Passagen» darstellt. Vom ehemaligen Sakralbau ist heute nur noch das Kirchenschiff erhalten: Fassade, Apsis und Turm wurden zwischen 1893 und 1927 abgebrochen. Der vorliegende Beitrag rollt die Geschichte der Kirche von ihrer Gründung im 16. Jahrhundert bis zur Säkularisierung und Umnutzung zur Fussgängerpassage auf, die auf eine Initiative des Ingenieurs Fulgenzio Bonzanigo zurückgeht und Bellinzona eine urbane Note verleihen sollte.

Dossier 2
Nathalie Annen
Eglise cherche affectation, pas sérieux s’abstenir
Transformations de temples en Suisse romande depuis 1960

Zusammenfassung
Zur Umnutzung protestantischer Kirchen in der Westschweiz seit 1960
In der Westschweiz verfügen die Kirchen der protestantischen Kantone über weit mehr Gotteshäuser, als sie benötigen. Um ihre Anzahl mit den Besucherfrequenzen und den Bedürfnissen besser in Einklang zu bringen, bieten sich den Eigentümern – den Gemeinden oder den Kirchgemeinden – zwei Möglichkeiten: die Umnutzung oder der Verkauf. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle werden Projekte kultureller oder sozialer Ausrichtung bevorzugt, unabhängig davon, ob das Gebäude auf dem Immobilienmarkt angeboten wird oder nicht. Der Verkauf an Private, eine ernstzunehmende Option, kann zum Umbau der Kirche in Wohnraum oder zu ihrem Abbruch führen. Diese von Fall zu Fall diskutierten Alternativen bleiben in Anbetracht der wenigen Fälle in den vergangenen fünfzig Jahren seit der Wiedervereinigung der Freien Evangelischen Kirche mit der Landeskirche in der Waadt eher theoretischer Natur. Über wirtschaftliche Überlegungen oder emotionale Bindungen hinweg stehen sich in der Diskussion vor allem der konkrete Nutzwert und die kulturhistorische Bedeutung gegenüber.

Dossier 3
Johannes Stückelberger
Typologie der Kirchenumnutzungen
Kirchliche, öffentliche, private Umnutzungen

Zusammenfassung
Eine Typologie der Kirchenumnutzungen nach Nutzern ergibt folgendes Bild: Am sinnvollsten und angemessensten ist es, Kirchen, die für den herkömmlichen Gemeindegottesdienst nicht mehr gebraucht werden, einer erweiterten kirchlichen Nutzung zuzuführen, allenfalls eine Mischnutzung anzustreben oder die Räume zu vermieten. Unproblematisch ist der Verkauf an andere Religionsgemeinschaften. Als nichtkirchliche Nutzer sind öffentlich-rechtliche Institutionen gegenüber Privaten vorzuziehen, da Kirchen öffentliche Orte sind, die auch weiterhin der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollten. Verkäufe an Private sind in der Schweiz bislang – Kapellen kleinerer Religionsgemeinschaften ausgenommen – die Ausnahme. Kirchenumnutzungen sind nichts Neues, es gibt sie, seit es Kirchen gibt. Sie sind Ausdruck eines Wandels der Gesellschaft, dem sich die kirchlichen Institutionen nicht entziehen können.

Dossier 4
Sonja Keller
Was tun mit «überzähligen» Kirchenbauten?
Kirchliche Strategien und Lösungen in der Schweiz
Zusammenfassung
Im Umgang mit kirchlich nicht mehr benötigten Kirchengebäuden gibt es Parallelen zwischen der evangelisch-reformierten und katholischen Kirche, wobei die lokale territoriale Organisation der Kirche mit gemeindeübergreifenden Liegenschaftsstrategien verbunden wird. Auslöser für diese neuen Konzepte ist der signifikante Rückgang von Kirchenmitgliedern in beiden Landeskirchen: Die auf finanziellen Erwägungen und Reformen beruhenden Zusammenlegungen von Kirchengemeinden haben das Phänomen von «überzähligen» Kirchenbauten evident gemacht. Der Beitrag zeigt die Rahmenbedingungen für Kirchenumnutzungen, geht auf die theologischen Grundlagen ein und skizziert dabei anhand von zwei Beispielen – der katholischen Maihofkirche in Luzern und der evangelisch-reformierten St. Markuskirche in Basel – die aktuellen Trends. Dabei wird deutlich, dass trotz unterschiedlicher Kirchenraumverständnisse gegenwärtig beide Landeskirchen auf erstaunlich ähnliche Strategien im Umgang mit «überzähligen» Kirchen in urbanen Gebieten zurückgreifen.

Fotoessay
Um- und/oder Neugestaltung?

Die Kompositionen und Fotocollagen der Architektin Iglal Boulad gewähren den Betrachtern andere Einblicke in die Welt der Denkmale. Der Fotoessay zeigt eine Auswahl an Collagen von Kirchen. Die Fotokünstlerin zielt auf einen Perspektivenwechsel und will fundamentale Aspekte dieser Bauten hervorheben – den Blick weg vom «klassischen» Bau hin zu seiner starken Ausdruckskraft lenken, den Fokus auf seine Orientierungsfunktion und Heiligkeit legen. Iglal Boulad lotet die verschiedenen architektonischen Elemente und ihre Qualitäten aus, inszeniert sie neu und fängt damit die Lebendigkeit und spürbare Kraft dieses Erbes ein. Restrukturierung und Inszenierung der ausgewählten Fotofragmente regen zu einem individuellen Dialog zwischen Beobachter und den Motiven an. Neben den Kirchen arbeitet die Architektin auch mit Fotocollagen von Stadtbauten, Brücken, Skulpturen, Schlössern, Bahnhöfen und Brunnen. Iglal.boulad.net

Dossier 5
Theresia Gürtler Berger
Als wäre nichts gewesen – die Umnutzung der Luzerner Pfarrei St. Josef zum «MaiHof»
Kirchenumnutzung fordert individuell heraus

Zusammenfassung
Die Umnutzung der St. Josefkirche in Luzern hat Vorbildcharakter, aber sie ist nicht einfach kopierbar. Ohne den klaren und offen kommunizierten Entscheidungsprozess der Kirchgemeinde über Situationsanalyse in der Katholischen Kirchgemeinde Stadt Luzern, in der betroffenen Pfarrei, den Projektwettbewerb und den Zuzug von Denkmalpflege und engagierten Architekten sowie versierten Handwerkern und Spezialisten gäbe es diese bestandsorientierte, individuell massgeschneiderte Lösung nicht. Sie weist aber auch auf grundsätzliche Fragen zur Umnutzung von denkmalpflegerisch wertvollen Gebäuden hin. Was ist nachhaltig, ökonomisch sinnvoll, welche Eingriffstiefe ist gerechtfertigt? Neue Nutzungen ziehen neue Baunormen und Komfortansprüche nach sich, lässt sich das mit dem Bestand vereinbaren, ist das noch finanzierbar? Umnutzungen auch von für die Ewigkeit gebauten Kirchen sind Teil der bewegten europäischen Baugeschichte. Sie lehrt in grösseren Zeiträumen zu denken, sodass Ruhenlassen und Einmotten auch Lösungen sein können.

Dossier 6
Angelica Tschachtli
Die Kirche als Wohnraum für Flüchtlinge
Beispiel einer Zwischennutzung in Winterthur

Die Glocken der reformierten Kirche Rosenberg in Winterthur haben ausgeläutet – sie schlagen nur noch die Uhrzeit. Der Bau aus den 1960er Jahren dient seit Januar als befristete Asylunterkunft. Eigentlich war eine Kulturkirche vorgesehen. Ein Behördenreferendum und eine Abstimmung haben dieses Vorhaben verhindert.

Interview | Interview | Intervista
«Heilige Räume sind soziokulturelle Konstruktionen»
Anna Minta
ist seit März 2016 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der Katholischen Privat-Universität Linz. An der Universität Zürich leitet sie seit 2014 das SNF-Forschungsprojekt «Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen».
Angelica Tschachtli hat mit ihr gesprochen.

KdS | MAH | MAS
Ein Walliser Querschnitt
Buchpräsentation der beiden KdS-Bände zu den Bezirken Brig und Monthey

Zum 200. Jahrestag des Beitritts zur Eidgenossenschaft schenkt sich das Wallis gleich zwei Kunstdenkmälerbände – ein Rückblick auf die Buchvernissage in Sitten.

Aktuell | Actuel | Attuale
Billet du président
Benno Schubiger, Präsident der GSK

Aktuell | Actuel | Attuale
Spiezer Tagung ’16
Zeugen vergangener Macht und Herrschaft – Schweizer Burgen und Schlösser vom Mittelalter bis heute
Programm und Anmeldung: www.spiezertagung.ch

Impressum | Impressum | Colophon

Preis: CHF 25.00
Preis für GSK Mitglieder: CHF 20.00
Abbildungen: 88
Seitenzahl: 80
Reihe: Kunst + Architektur
Orte / Gemeinden: Schweiz / Suisse / Svizzera
Autoren: Diverse
Artikelnummer: K+A 2016.1
Inhaltssprache: Deutsch, Französisch, Italienisch
Erscheinungsdatum: 18.04.2016
ISBN: 978-3-03797-242-7
Verlag: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte
Bestellungen: über Webshop (www.gsk.ch) oder Buchhandel